Anke Volkmer: Supernatural

Irgendwo auf der Welt ein Zimmer, ein Fernseher, eine Kamera, ein Stativ. Die Serie SUPERNATURAL entstand während der Olympischen Spiele von Sydney (2000), Athen (2004), Peking (2008) und wird voraussichtlich auch in London 2012 ihre Fortsetzung finden.
Katja Stuke porträtiert darin Kunstturnerinnen und Turmspringer- und Springerinnen, die sie teilweise live oder als Standbild vom Fernsehbildschirm abfotografiert. Dabei überführt sie die Semiotik des Fernsehbilds in die Parameter der Porträtaufnahme, indem sie in einem zweiten selektiven Arbeitsschritt den Bildausschnitt im Hochformat bestimmt und die Senderkennung im Bild wie auch das Publikum zugunsten eines kontrastreichen farbigem Hintergrunds ausschließt. So wird auf jede Markierung, welche auf ein Fernsehbild hinweisen und welche Aufschluss über Zeit, Ort und Inhalt des Dargestellten vermitteln würde, verzichtet und so die Aufmerksamkeit auf das Antlitz fokussiert.

Katja Stukes SUPERNATURALS sind im Namen des Sports ihrer Natürlichkeit beraubte Menschen. Sie müssen zuerst die sexuelle Reife und später das Altern unterdrücken, woraus eine eigentümliche Androgynität erwächst. Als Olympioniken haben sie keine Möglichkeit einen Individualisierungsprozess auszuleben. Persönlichkeit und Privatleben müssen sich dem Training und der Karriere unterordnen. Ein solcher Mensch wird nach keinen Kriterien außer seinen Höchstleistungen wahrgenommen. Katja Stukes an der Dramaturgie von Hichcocks Suspense geschulter Blick richtet das Hauptaugenmerk weg vom Spektakel hin zur Person.

Sie verzichtet auf die Darstellungsmodi, die den Sportler im emotionalen Moment von Sieg und Niederlage oder in Bewegung einfängt, stattdessen wartet sie eine Frontalaufnahme im Zoom ab. Statt sportlicher Action sucht sie den einen, hoch verdichteten Moment der Konzentration und Anspannung in den Gesichtern der Sportler und Sportlerinnen ein paar Sekunden vor der eigentlichen Wettkampfdarbietung, in der dann es um Alles oder Nichts geht.

Obwohl die entstehenden Fotografien ein Format von 80 x 100 cm aufweisen und sich der Betrachter Face to Face mit einem monumentalisierten Gesicht konfrontiert sieht, bleiben die darauf gezeigten Menschen anonym. Das mag an den beim Massenpublikum weniger populären Disziplinen Turnen und Turmspringen liegen und daran, dass keiner der Dargestellten je die Medienpräsenz oder den Starstatus beispielsweise eines Zinedine Zidane erfahren hat.

Die einzige je zur Ikone des Olympischen Turnens aufgestiegene Nadia Comaneci, die bei den Spielen von Montreal 1976 mit nur 14 Jahren sensationelle 5 Goldmedaillen holte, ist denen wie Katja Stuke 1968 geborenen noch aus dem Fernsehen, der Bravo und dem Stern bekannt. Ihr dünnes blasses Mädchengesicht, unvorteilhaft geschminkt und frisiert, wurde konstituierend für unsere Vorstellung der Leistungsturnerin aus dem Ostblock. Ganz sicher ist es aber auch Katja Stukes Blick, der sich dem fast schon intimen Moment des Sich Sammelns stets diskret und ohne jede Art von Voyeurismus nähert.

Neben dem Individuum sucht Katja Stuke aber auch den übergeordnete Typus oder einer überblicksartigen Erfassung, worauf der seriell-konzeptuelle Ansatz der SUPERNATURALS ausgelegt ist. Mit diesem minimalen und dennoch präsenten künstlerischen Eingriff baut sie, genau wie in ihrer Serie SUITS, in der sie Männer in Anzügen unbemerkt auf der Straße fotografiert und diese mit aus Filmen extrahierten Bildern von Anzugträgern methodisch vereint und vergleichend nebeneinanderstellt, ihre individuelle Bildsprache mit Wiedererkennungswert auf. Die Street Photography erlaubt die unverfälschte Momentaufnahme des Menschen, der sich der Kamera nicht bewusst ist. Susan Sontag betonte in „Über Fotografie“: „Die Gesichter von Menschen, die nicht wissen, dass sie beobachtet werden, haben etwas an sich, das verschwindet, sobald sich diese Menschen beobachtet fühlen“.

Die von Katja Stuke gewählte Frontalaufnahme widerspricht der konventionellen Darstellung des Vertieftsseins, wie auch ihre Herangehensweise mit Fernsehbildern zu arbeiten die komplexe Dynamik der Porträtfotografie von Modell, Kamera und Betrachter neu auslotet.

Gleichwohl ist Katja Stukes Arbeit nicht mit den betont sachlichen, das Genre Porträt und die Autorenschaft des Fotografen verweigern Bilder von Thomas Ruff zu vergleichen. Wollte man Ruffs Herangehensweise bildwissenschaftlich nennen, so müsste man bei Katja Stuke von medienwissenschaftlich sprechen. Mitte der 1960er Jahre sagte Marshall McLuhan voraus, dass die erste Generation, die mit den Massenmedien aufwächst, die Welt verändern werde. So ist es nur natürlich, dass sich die Fotokünstlerin Katja Stuke sich der Fotografie auch Fernsehen und Video als Material und Objekt ihrer künstlerischen Praxis aneignet. Im ihrem Abfotografieren eines bereits medial aufbereiteten Bildes findet eine Brechung und ein transformatorischer Prozess statt. Die Künstlerin kanalisiert den kollektiven, massenhaften Sehakt, der die Live-Fernsehübertragung der Olympischen Spiele zur Popkultur werden lässt. Sie untersucht das Spektakel, verweigert sich ihm aber um daraus eine neue Bild- und Betrachtungsform zu generieren.

Zum einen ist ihre Kameraästhetik abhängig von einem Studioregisseur, der live und blitzschnell aus wahrscheinlich 5 oder mehr Bildern von Kameras auf unterschiedlichen Positionen die Übertragung choreographiert. Die Fernsehsendung liefert ihr jedoch auch die Möglichkeit des Close-Ups, eine Perspektive, die ihr als Zuschauerin vor Ort mit bloßem Auge nicht zur Verfügung stünde. Während die Fernsehübertragung für ein Massenpublikum gedacht war, richten sich die SUPERNATURALS aber an einen Einzelbetrachter und oszillieren einmal mehr zwischen Nähe und Distanz.

Das noch leicht wahrnehmbare Flimmern des Fernseh-Rasters fällt in Katja Stukes Fotografien je nach Übertragungstechnik in unterschiedlich stark farbigen vertikalen Streifen aus, was den Porträts eine eigentümlich irisierende Aura verleiht. Das Fernsehbild, um noch einmal die theoretischen Überlegungen McLuhans miteinzubeziehen, ist mehr mit als einer Million Daten pro Sekunde ein Mosaik aus Punkten und keineswegs ein Still Shot oder Foto. Der Bildabtaster zeichnet eine Kontur, die nicht durch darauffallendes Licht (wie im Falle der Fotografie) erscheint, sondern durch aus dem Bildschirm heraus leuchtendem Licht, was dem Dargestellten die Qualität einer Skulptur oder einer Ikone verleiht.

Katja Stukes Blick liegt auf der medialen Darstellung von Sportveranstaltungen, in der, einer ganz eigenen Dramaturgie folgend, Sportler und ihre Leistungen in Besitz genommen, überhöht und angebetet werden. Bereits im antiken Griechenland wurde Gymnastik als die perfekte Verbindung von Geist und Körper gedeutet und Sport als Metapher für das Lebens gesehen. Turnen und Turmspringen sind in ihrer Ausführung hochästhetisierte Darbietungen, ähnlich dem traditionell-japanischen Bogenschießen Kyudo, das ein ungewohntes Maß an Disziplin, Aufmerksamkeit und innerer Ruhe zum Erreichen der kunstvollen Darstellung und Ausstrahlung verlangt und das durch den vergeistigten Moment der Konzentration zu einer spirituellen Übung gerät.

Der Titel SUPERNATURAL spielt auf diesen Zustand der Entkörperlichung an, ebenso wie auf ein durch übernatürliche Kraft geschehendes Wunder, welches als eine Erscheinung von ätherischer Schönheit angenommen, fotografisch jedoch nicht festgehalten werden kann. Indem die Künstlerin das Bild aus dem Davor und Danach löst und es einfriert, betont sie diese affektive Kraft der Bilder. Anke Volkmer (Kuratorin, Julia Stoscheck Collection)