Christiane Kuhlmann: Eleven To Liverpoolstreet.

Durch London mit dem Bus, nicht irgendeinem, sondern mit der Linie 11 bis zur Liverpoolstreet, die selbst vom Magazin Focus als absoluter Geheimtipp für eine Sightseeingtour quer durch die Metropole empfohlen wird – entlang an den wichtigen Plätzen und Orten bis ins Herz der Stadt, dem Regierungsviertel und der Welt der Hochfinanzen, die sich um die Bank of England herum angesiedelt hat.

Katja Stuke hat sich auf diesen Weg gemacht, hat Platz genommen auf der oberen Etage des roten Doppeldeckerbusses und mit ihrer Videokamera registriert was um sie herum geschieht – wer ein- und aussteigt, wer am Rande stehen bleibt, um auf eine andere Busverbindung zu warten, hat unbeobachtet geglaubte Blicke aufgeschnappt, die Textur von Mänteln, Jacken und Taschen gescannt, Lichtreflexe auf Scheiben und Sonnenbrillen eingefangen. Sie geht nah ran, zoomt sich mittels der Kamera in die Welt ihres Gegenübers und wird zum heimlichen Beobachter des Alltäglichen.
Als Betrachter der Serie und der gleichnamigen Publikation bekommt man ihre Sichtweise ungebremst vermittelt und wird hineingezogen in ihre Direktheit. Wir folgen den Spuren, die sie aufgenommen und für uns, den Betrachter oder den Leser, neu gelegt hat – eine Spur vorbei an Passanten, dem echtem Leben, hinein in ein beängstigendes Chaos.

Die Menschen der Portraitserie ziehen durch die Kameraführung, die spezifische Bildauswahl und den Ausschnitt an mir vorbei und ich tue automatisch das, was ich immer mache, wenn ich mit dem Zug oder dem Bus unterwegs bin: Ich gucke, ich betrachte meine Mitfahrer, analysiere sie ohne jegliche Kenntnis von Alter oder Lebenssituation – erfinde meine eigene Geschichte zu ihrer Erscheinung, ihrem Auftritt und Ziel. Das Kino im Kopf startet bei mir, hier durch die animistische Qualität des Filmstills und dort, im wirklich wahren Leben, durch Kleinigkeiten, die mir auffallen. Kleidung, was wer tut, wie er spricht, wie er sich bewegt oder einfach, weil jemand unausweichlich in meiner Blickrichtung sitzt oder steht, bieten mir Anlass zur Imagination. Es ist indiskret, das gebe ich gerne zu, aber ich vermute, dass ich mich da wohl gar nicht so sehr von anderen unterscheide, zumindest nicht von Katja Stukes Sichtweise. Die Bezeichnung Öffentlicher Personen Nahverkehr ist auch gleichzeitig Programm. Mir kommt es so vor, als wenn man mit dem Lösen eines Fahrscheins, auch die Lizenz zum Glotzen mit erworben hätte. Wenn man gerade nicht gucken will, dann schaut man durch die Scheibe, bei Tage sieht man wer aus- und einsteigt – am Abend sieht man das ganze Busgeschwader wie im Spiegel – Blicke ins vermeintlich Leere gibt es im Gedränge des Verkehrs nicht.

Katja Stuke hat hiermit eine Bildform aufgenommen, die man aus der Geschichte der Fotografie durchaus kennt. Walker Evans Subway Portraits sind die wohl bekanntesten Vorbilder. Sie entstanden zwischen 1938 und 1941 in der New Yorker U-Bahn. Mit einer versteckten Kamera, die er mit einem Fernauslöser im Ärmel bediente, entwickelte er eine große Serie von Portraits, immer leicht von unten aufgenommen, mit Gesichtern, die durch die schwierigen Lichtverhältnisse in der Bahn zu zweifelhaften Charakteren werden.
Man geht eine Beziehung auf Zeit ein wenn man in den Bus oder eine Bahn steigt, in einem abgeschlossenen Raum, in Sichtweite der übrigen Welt, aber von ihr getrennt. Die Protagonisten in Walker Evans Serie spiegeln dieses Beziehungsgeflecht, gucken frontal und direkt, doch meistens teilnahmslos. Nicht wissen können sie, dass sie dabei festgehalten werden – nicht wissen können wir, ob ihr Gegenüber, der Fotograf, ebenso geradeaus blickt oder ob er die Blick-Beziehung allein mit der Kamera aufnimmt.
Robert Frank hat bei seinen Streifzügen durch New York 1958 die Serie From the Bus gemacht. Sie entstand noch in der Zeit bevor er sich intensiv mit dem Film beschäftigte. Die Bilder wurden im Vorbeifahren aufgenommen und zeigen Passanten, Leute die gerade noch auf den Bus aufspringen und lange verschwommene Schatten des Vorüberziehens. Frank sagt hierzu: „The Bus carries me thru the City, I look out the window, I look at the people on the street, the Sun and the Traffic Lights. It has to do with desperation and endurance – I have always felt about living in New York. Compassion and probably some understanding for New York’s Concrete and its people, walking… waiting… standing… holding hands… the summer of 1958.“ Die Welt im Vorbeifahren zu begreifen, sich ein Bild zu machen, welches nur für einen Bruchteil Bestand hat, ist das Faszinierende an dieser Sichtweise, die auch bei Katja Stuke wiederzufinden ist. Verzweiflung und Ausdauer sind für Frank die Komponenten seines fotografischen Handelns, das genau genommen andersherum organisiert ist, als jenes der Düsseldorfer Filmerin. Sie vereinigt beide Positionen der bekannten Vorläuferserien in Eleven to Liverpoolstreet.

Stuke bedient sich einer kleinen handlichen Videokamera, die sie mehr als Touristin auf Sightseeingtour charakterisieren würde und sie verhält sich damit eher im Sinne von Walker Evans, nämlich heimlich und beiläufig. Aus dem so entstandenen Filmmaterial werden die Bilder erst im Nachhinein selektiert und editiert, das Zufällige, was sowohl bei Franks Fotografie, als auch in ihrem Videomaterial entscheidend ist, wird von im Anschluss in etwas Konkretes umgemünzt.
Sie geht vor wie ein Regisseur und nicht der Akt des Aufzeichnens ist entscheidend, sondern der Akt des Zuschneidens.
Auszüge aus der Serie der Busfotografie Robert Franks sind, ebenso wie Katja Stukes Arbeiten aus der Serie Supernatural, in der Ausstellung Der Mensch und seine Objekte im Museum Folkwang vertreten. Im Hinblick auf die Art der Bildfindung ist dieser Titel bezeichnend für die grundsätzliche Arbeitsweise der Künstlerin, denn sie verhält sich in den allermeisten ihrer Arbeiten, wie bei einer Observation. Die Serien Facts and Fiction, Suits oder Könnte sein, haben alle gemeinsam, dass sie dem Zuschauer eine mögliche Sichtweise anbieten, mit konkreten Protagonisten, aber den Zusammenhang ausblenden. Es entsteht eine geheimnisvolle Atmosphäre, in der normale Passanten zu Verdächtigen werden können oder zumindest so angesehen werden. Es ist die Art einer dramaturgischen Spannung, die in Katja Stukes Bilder aufgebaut wird, und dass sie sich damit seit langen auskennt, kann man nicht allein an ihrer Serie: My personal Hitchcock von 2004 ablesen.

In der Publikation zu Eleven to Liverpoolstreet wird das Observieren in den Focus gestellt – nicht allein im Bild selbst wird es zum Thema gemacht, sondern auch durch die Einblendung von Ort und Zeit. Der Trip durch London beginnt am Ende der Welt: April, 1, 2009, 10:45:02, World’s End und endet am selben Tag 12:44:23, Bank / Threadneedle Street. Im zeitlichen Ablauf von gut zwei Stunden und mit 19 Zwischenstopps verdichtet sich die Situation, spitzt sich zu auf ein Ereignis zu, dass bereits im Vorfeld in unzähligen Internetforen angekündigt war: den Demonstrationen und Blockaden, die an diesem Tag in der britischen Hauptstadt anlässlich des G20 Gipfels stattfinden sollten. Man sprach von apokalyptischen Reitern, die über London hereinbrechen sollten – oder anders ausgedrückt von Endzeitstimmung. Die Bildabfolge in der Publikation greift formal diese Zuspitzung auf. Während zu Beginn der Fahrt die Passagiere und Passanten ruhig und gelassen wirken, wendet sich ihr Interesse etwa ab Fetter Lane anderen Dingen als dem Erreichen oder Verlassen des Busses zu. Man blickt umher und maskierte Demonstranten bestimmen nicht nur das Bild, sondern auch die Stimmung insgesamt, im Bus und außerhalb. Blättert man im Heft zurück, so guckt man, ob es vielleicht schon vorher Anzeichen der Unruhe gegeben hat: Sind Sonnenbrillen verdächtig oder Kapuzen, die ins Gesicht gezogen werden? „Könnte sein“ muss man wohl mit den Worten der Fotografin antworten, denn alles kann, nichts muss, wenn man sich im öffentlichen Verkehr bewegt. Dass die Demonstrationen stattgefunden haben, erkennt man spätestens auf der letzten Seite, auf der eine Fotografie aus dem Guardian vom 2. April 2009 zitiert wird und einen Schlagstockeinsatz der Polizei dokumentiert. Das Bild scheint eindeutig und wir können es vermeintlich lesen, falls nicht, bietet die Unterschrift eine Lesart an. Katja Stukes Busfahrt, obwohl zur selben Zeit entstanden wie die Dokumentation des Guardian, ist fast harmlos im Vergleich – wenn nicht dieses Gefühl der Unruhe wäre, dass sie mit ihrer Serie geschürt hat.
Sichtweisen überlappen sich in der großformatigen Broschüre Eleven to Liverpoolstreet, die das Format einer Tageszeitung aufnimmt und damit einmal mehr die Vielschichtigkeit von Katja Stukes Koordinatensystem sichtbar macht, in dessen Fadenkreuz tradierte Bildmuster mit immer neuen Positionen Verbindungen eingehen. Christiane Kuhlmann